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Berner “Almanach Tanz” – 2012

Auf lausigen Böden tanzte sie nicht gern. Auch wenn die Gitanas in Andalusien den Flamenco auf staubtrockner Erde oder holprigen Dorfplätzen ungeschönt zelebrieren – sie wollte ihm etwas anderes abgewinnen.

Deshalb ärgerte es sie immer, wenn sie an einem Aufführungsort erschien und feststellen musste, dass die Bu?hne aus groben, unebenen Brettern bestand: «Wie sollte ich da Nuancen zum Klingen bringen?» Das leise Schleifen der Schuhspitze etwa, wenn sie, stolz wie eine Carmen, die sich die alten Zöpfe abgeschnitten hat, einen Bannkreis um sich zog?
Das allmähliche Crescendo der Absätze, die einander «tactactactac» zum ultimativen tänzerischen Statement antrieben? Oder den dumpfen Aufprall des Fussballens, wie ein Signal zur Erdmitte hin?
Nachdem Ania Losinger all das immer wieder unter wenig zufrieden stellenden Bedingungen dargeboten hatte, beschloss sie, sich eine eigene Bu?hne zu bauen. Sie unterlegte Metall, Teppichreste und andere Materialien, installierte Tonabnehmer, experimentierte. Sie wandte sich von der Gruppe Flamencos en route ab und dem Berner Tonus-Music Labor zu. Sie tanzte zu den Kompositionen des dort aktiven Musikers und Komponisten Don Li und erarbeitete ein Soloprogramm. Aber etwas fehlte.
Von Sevilla nach Shanghai
Gern spricht die Tänzerin aus Gerzensee von einer «Fu?gung», die sie 1998 mit dem Kaiserstuhler Instrumentenbauer Hamper von Niederhäusern zusammenfu?hrte. Sie träumte inzwischen von «einem akustischen Klangboden», er «wollte schon immer so grosse Töne bauen». Also entstand in enger Zusammenarbeit der beiden die Xala, ein 400 Kilogramm schweres, 4,5 Quadratmeter grosses Bodenxylophon, mit den Fu?ssen bespiel- und betanzbar. Wie ein Geschenk zum dreissigsten Geburtstag eröffnete es Ania Losinger eine neue Dimension und ku?nstlerische Ära.
Heute, ereignisreiche zehn Jahre später, besitzt sie bereits drei solche Instrumente. Das ju?ngste davon, Xala III, reiste 2010 in fu?nf mehr oder weniger handlicheTaschen verpackt mit ihr nach Shanghai. Dort trat sie zusammen mit dem Zu?rcher Schlagwerker Mats Eser an der Weltausstellung im spanischen Pavillon auf. Mit Flamenco im traditionellen Sinn hat Losingers aktuelle Tanzkunst allerdings nicht mehr viel zu tun. Eindru?cklich zeigte dies «Shanghai Patterns», ein Stu?ck, das sie mit Eser an der Marimba nach der Ru?ckkehr aus China am BeJazz Winterfestival in Bern urauffu?hrte. «Die Gleichzeitigkeit verschiedenster vertrackter Rhythmen, die Losinger mit Absatz und Spitze ihrer Schuhe sowie zwei langen Stöcken auf den Klanghölzern der Xala zustande brachte, versetzte beim Zuhören in die flirrende, von tausend Strömen und Strömungen durchzogene Grossstadt“, schrieb die Autorin dieses Porträts ganz bezaubert in einer Rezension fu?r die „Berner Zeitung“.
„Doch da die Tänzerin als Musikerin im Berner Tonus-Music Labor gewachsen ist, wo die Minimal Music gepflegt und weiter entwickelt wird, reduzierte sie die Vielfalt immer auch wieder auf einen Aspekt. Da war der Balztanz des Kranichs, den sie mit einem ausladenen Fächer in vollendeter Eleganz nachahmte – ein Moment der Stille und Schönheit in diesem Stu?ck, auch wenn man von der mythologischen Bedeutung des Vogels als Träger der Seelen in den Himmel nichts weiss.»
Vom Sport zur Kunst
Der Fächer ist eines der Versatzstu?cke, die Ania Losinger in immer neue Zusammenhängestellt. Ebenso sind die spanischen Kastagnetten noch vorhanden, in Form von Klappen oben an den hohen Stöcken, mit denen die Ku?nstlerin unten das Xala bespielt. Neben der Fussarbeit ist so gar doppelte rhythmische Handarbeit möglich – ohne den verspielt-ornamentalen Charakter natu?rlich, den Letztere beim Flamenco hat. Ganz im Gegensatz dazu ist Losingers Ästhetik klar und geradlinig,sind ihre Bewegungen diszipliniert, verrät ihr Blick höchste Konzentration. Ist sie beim Tanzen und Spielen in Trance? «Trance wu?rde ich es nicht nennen», antwortet sie, «eher einen Zustand äusserster Präsenz, wie ich ihn sonst nicht erreichen und erleben kann. Ich höre und registriere alles, was im Raum passiert, jeden einzelnen Ton, die Obertöne, Schwingungen, Resonanzen. Alles. Und alles gleichzeitig.»
Auf viele wirkt diese Frau, die in der Disziplin Rhythmische Sportgymnastik einst zum Nationalkader gehörte, wie eine Amazone. Etwas Unbeugsames geht von ihr aus, so biegsam, ja geschmeidig ihr Körper auch ist. Ist sie Athletin oder Ku?nstlerin? Musizierende Tänzerin oder tanzende Musikerin? «Mein Traum war es immer, Tanz und Musik gleichberechtigt in einer Person zu vereinen», sagt sie selbst, «doch lange war es so, dass die Bewegungsabläufe auf der Xala sich nach den rhythmischen Vorgaben richteten und selten umgekehrt.» Geändert hat sich dies 2009, als die Tänzerin erstmals selbst fu?r ihre Xala komponierte, statt ausschliesslich Stu?cke befreundeter Musiker darauf zu interpretieren. Interessant hörte sich das an! Das damalige Programm «The Five Elements» beschäftigte sich mit Mustern, die fu?r europäische Ohren sehr ungewohnt sind, etwa der Überlagerung
eines Achtertakts mit einem Siebnertakt. Ergeben haben sich solche komplexen rhythmischen Strukturen aus Zahlen, die den fu?nf chinesischen Elementen zugeordnet sind.
«The Five Elements» war auch eine Forschungsarbeit – die eigenwillige Ku?nstlerin versteht sich grundsätzlich als Forscherin. Das muss sie auch, denn mit jedem Schritt, den sie auf ihrer Xala macht, betritt sie Neuland. Weltweit gibt es kein zweites solches Instrument und keine Zweite, die das komplexe Spiel darauf beherrscht.
Hierin besteht Ania Losingers grosse Leistung: Auf diesem Klangboden, dieser eigens fu?r sie konstruierten Bu?hne entwickelt sie ihre ganz eigene Gesamtkunst und erfindet sich laufend neu. Die Ausdauer, die sie dabei an den Tag legt, ist aussergewöhnlich und bringt aussergewöhnliche Resultate.
Aus der Weite des Himmel in die Tiefe des Bergs
Der Klangraum, in dem sich Ania Losinger bewegt, ist weit. So weit wie der Himmel u?ber Gerzensee, dem Dorf jenseits der Nebelgrenze. In einem Schloss ist sie dort aufgewachsen. Heute lebt sie in einem zugigen Bauernhaus am selben Ort, lebt von der Musik und fu?r die Musik. Da ist viel Luft, viel Platz zum Üben, viel Ruhe rundum: ideale Bedingungen, die der Konsequenz, mit der diese Ku?nstlerin ihre Ziele verfolgt, sicher zuträglich sind. Egal, wo Ania Losinger auftritt – solo in einem Jazzkeller, mit dem Berner Symphonieorchester im Casino, als Aschenputtel im konzertanten Kindertheater, auf Tour durch Europa oder mit ihrem Partner in Shanghai – immer ist sie ganz bei sich und entfaltet eine magische Wirkung, der sich niemand entziehen kann. Monochrome Lichtkonzepte, die ihre muskulöse Silhouette wie einen abstrakten Scherenschnitt wirken lassen oder die Schattenwu?rfe der Tänzerin in einem konkreten Reigen mit einbeziehen, tragen dazu bei. Bei Losinger ist alles Konzept.
Und doch: In ihrer Performance ist das Archaische noch spu?rbar. Nicht umsonst hat sie die elaborierte Xala nach dem primitiven baskischen Perkussionsinstrument Txalaparta benannt, bei dem zwei oder mehrere Holzbretter von zwei Spielern visà-vis mit dicken, senkrecht gehaltenen Stöcken bespielt werden. Viel mehr als eine
Silbe hat das marktrechtlich geschu?tzte Xala mit dem Txalaparta allerdings nicht gemein. Oder doch? Spricht aus dem begrifflichen Verweis vielleicht die ewige Sehnsucht nach dem Urspru?nglichen?
Gitta Gsells Film „Bödälä – Dance the Rhythm“ (2010), ein Bilderrausch zum Stampfen als urmenschlichem Akt der Selbstvergewisserung, zeigt Losingers Auftritt im Turbinensaal der Grimselkraftwerke – ein so starkes wie sublimes Stu?ck getanzter Musik. Es ist dem koketten Bödälä zum Ländler im Toggenburg oder der Innerschweiz ebenso verwandt wie dem ungestu?men Taconeo der Gitanas in den Dörfern Andalusiens. Ania Losinger, die Asketin, schöpft aus dem Vollen dieser Erfahrungen.
Text: Tina Uhlmann